Der Chefarzt der Geriatrie im Alexianer St. Remigius Krankenhaus Opladen Sascha Wihstutz über das Multimedikationsproblem beim alten Menschen
Leverkusen/ Die Entwicklung zahlreicher Medikamente hat zweifellos einen enormen medizinischen Fortschritt bewirkt und ist auch ein wesentlicher Grund für die immer höhere Lebenserwartung. Aber wie so oft im Leben: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Denn jedes Medikament hat auch unerwünschte Nebenwirkungen, die sich im Alter durch die schlechtere Stoffwechselleistung der Organe potenzieren. Gerade alte Menschen leiden aber häufig an mehreren Erkrankungen gleichzeitig und benötigen somit auch mehrere Medikamente parallel. Klinische Studien werden meist an jüngeren Populationen durchgeführt, sodass es keine gute Datenlage für ältere Patienten gibt. Für Kinder gibt es spezielle niedrigere Dosierungen, weil die Organe noch nicht ausgereift sind, für alte Menschen aber nicht. Das kann gerade bei mehreren Medikamenten zu Neben- und Wechselwirkungen führen und sie können kumulieren (sich im Körper anreichern). Ganz fatal wird es, wenn man eine Medikamentennebenwirkung mit einem neuen Medikament behandelt. So z.B. kann Allopurinol zur Senkung der Harnsäure bei Gicht Juckreiz auslösen und es wird vorschnell ein sog. Antihistaminikum verordnet, um den Juckreiz zu lindern, statt das alte Medikament abzusetzen. Solche sog. Verschreibungskaskaden gibt es häufiger als man denkt. Gerade die Ärzte in der Geriatrie versuchen das zu erkennen und den Medikationsplan zu „verschlanken“.
Auch wird die Zuverlässigkeit der Medikamenteneinnahme (sog. „Compliance“) im Alter immer schlechter, je mehr es sind. Bei einer Tablette pro Tag ist die korrekte Einnahme noch in knapp 90% der Fälle gegeben. Sind es vier Präparate am Tag, gelingt die richtige Einnahme anfangs nur noch in einem Viertel der Fälle, nach vier Jahren sinkt der Wert sogar auf 15%. Kommen im Alter kognitive Einschränkungen hinzu, wird es besonders dramatisch. Leider brauchen aber naturgemäß ältere Menschen mehr Medikamente, so verbrauchen über 60-jährige 64% aller Medikamente und Patienten ab 65 Jahren nehmen i.d.R. mehr als fünf Medikamente am Tag ein.
Aber nicht immer ist die reine Anzahl der Medikamente problematisch, sondern auch deren ungeeignete Auswahl! So gibt es Präparate, die im Alter unbedingt vermieden werden sollten, da sie die Sturzgefahr erhöhen, den kognitiven Abbau beschleunigen oder Verwirrtheit auslösen können. Immerhin gibt es jährlich bis zu 20.000 Todesfälle in Deutschland durch Pharmaka, von denen etwa die Hälfte als vermeidbar gelten. Ein wesentlicher Bestandteil der Altersmedizin ist genau das zu erkennen, Multimedikation zu vermeiden und das Nutzen-Risiko-Verhältnis der Medikation beim betagten Patienten auf dem Prüfstand zu stellen.