Solingen/ Die deutliche Mehrheit der Lehrkräfte in Nordrhein-Westfalen befürwortet grundsätzlich schulische Inklusion, allerdings müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Dies zeigt die heute veröffentlichte forsa-Umfrage, erstellt im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung (VBE).
„Die Haltung der Lehrkräfte ist schon seit vielen Jahren klar. Insbesondere die Grundschulen arbeiten schon in vielen Bereichen inklusiv, ohne jedoch die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu haben. Unter dieser Belastung geht das System jedoch in die Knie. Die Landesregierung und die Stadt Solingen als Schulträger sind durch diese Entscheidung nun umso mehr gefordert, die Bedingungen für eine gelingende schulische Inklusion hier bei uns vor Ort zu schaffen“, sagt hierzu Jens Merten, Vorsitzender des VBE in Solingen.
Inklusion gewollt – aber schwer umsetzbar
„Die grundsätzliche Zustimmung der Kollegien zur Inklusion ist spürbar, allerdings wird diese positive Haltung durch den Ärger über bzw. die tägliche Arbeit unter unzureichenden Bedingungen verdrängt“, ergänzt Jens Merten.
64 Prozent der Lehrkräfte in NRW halten die gemeinsame Unterrichtung von Kindern mit und ohne Behinderung grundsätzlich für sinnvoll – ein Höchstwert im Vergleich zu den Vorjahren (2020: 57 %) und über dem Bundesdurchschnitt (62 %). Doch nur 18 Prozent halten diese gemeinsame Unterrichtung unter den aktuellen Bedingungen auch praktisch für sinnvoll.
Daniel Weber, der stellvertretende Vorsitzende, erläutert: „Unsere Beschäftigten stehen hinter dem Gedanken der Inklusion – aber sie finden sich im Alltagsgeschäft ohne die dringend benötigte Unterstützung in den Schulen wieder. Seit über 10 Jahren ist die Inklusion im Schulgesetz NRW verankert, und dennoch sind wir von den grundlegenden Gelingensbedingungen weit entfernt. Selbst an langjährigen GL-Schulen in Solingen werden die bestehenden Rahmenbedingungen den Kindern, den Eltern und den Kolleginnen und Kollegen kaum bis garnicht gerecht. Wer Inklusion wirklich umsetzen und leben will, muss den Schulen endlich geben, was sie brauchen: ausreichend sonderpädagogische schulvExpertise, kleinere Lerngruppen, geeignete Räume, sinnvolle Qualifizierungsmaßnahmen und genügend Zeit für die Umsetzung.“
Starke Argumente für Inklusion
Die Umfrage zeigt, dass für Lehrkräfte in NRW vor allem soziale Aspekte für eine gemeinsame Unterrichtung von allen Kindern sprechen, beispielsweise:
– Recht auf Gleichbehandlung
– soziales Lernen
– Abbau von Berührungsängsten und Vorurteilen
– Förderung von Toleranz
– Bessere Chancen und Förderung von Kindern mit Behinderungen
Dazu Jens Merten: „Lehrkräfte nehmen ihre Schülerinnen und Schülern ernst und wollen ihnen und ihren Bedürfnissen gerecht werden. Das Kind steht im Vordergrund. Durch die prekäre Personalsituation an vielen Schulen fehlt aber oft Zeit für das so wichtige soziale Miteinander. Bindung und Vertrauen in die Pädagogen sind unabdingbare Faktoren für das Erreichen von sozialen Lernzielen.“
Massive Hürden im Schulalltag
Die Umfrage zeigt auch auf, welche Hürden Lehrkräfte in NRW benennen, die einen gelingenden inklusiven Schulalltag behindern. Dies sind beispielsweise:
– fehlendes (Fach-) Personal
– ungenügende materielle Ausstattung
– mangelnde Ausbildung bzw. Schulung der Lehrkräfte für Inklusion
– Größe der Klassen
Alarmierend ist, dass jede fünfte Lehrkraft angibt, dass die Regelschule den erhöhten Förderbedarf von Kindern mit Behinderungen nicht leisten kann!
„Mit 70-80% Stammpersonal lässt sich die Inklusion nicht erfolgreich umsetzen. Eine Mangelverwaltung führt dazu, dass unzählige Kinder abgehängt werden und die Beschäftigten unter der Last zusammenbrechen. Das System Schule kollabiert ansonsten. Inklusion braucht Personal“, macht Jens Merten deutlich.
Zu wenig Unterstützung, zu große Klassen
Unsere Lehrkräfte in Solingen wissen, welche Unterstützung dringend nötig ist, damit sie allen Schülerinnen und Schülern gerecht werden können. 97 Prozent der Beschäftigten in ganz NRW fordern eine Doppelbesetzung aus Lehrkraft und sonderpädagogischer Lehrkraft in inklusiven Klassen. Die Realität an den Schulen ist eine andere. Nur 2 Prozent der Lehrkräfte geben an, dass es an ihrer Schule in inklusiven Klassen immer eine Doppelbesetzung gibt, 69 Prozent der Kolleginnen und Kollegen unterrichten immerhin zeitweise in einer Doppelbesetzung, fast jede dritte Lehrkraft (27%) ist durchweg alleine in ihrer Klasse.
Weber kritisiert: „Bei uns melden sich aktuell Kolleginnen und Kollegen, die sich mit den anstehenden Aufgaben der Inklusion alleine gelassen fühlen. Sie sehen an den GL-Schulen, dass die Inklusion nur unter größten Anstrengungen und mit vielen Hindernissen und Rückschlägen bewältigt werden muss. Zeitgleich wissen sie um die steigenden Bedürfnisse der Kinder ohne sonderpädagogische Förderbedarfe. Das alles schürt eine große Skepsis.“
Die Umfrage zeigt, dass im Bund durchschnittlich 19,4 Schülerinnen und Schüler in einer inklusiven Klasse unterrichtet werden, in der im Durchschnitt 4,0 Kinder einen sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf haben. In NRW sind es jedoch 4,5 Kinder in Klassen mit durchschnittlich 21 Schülerinnen und Schülern.
Große Mehrheit unzufrieden mit Inklusionspolitik
Über 4 von 5 der befragten Lehrkräfte in NRW zeigen sich unzufrieden mit der Inklusionspolitik der Landesregierung. Die in einer offenen Abfrage genannten Gründe sind vielfältig, hier werden in der Befragung beispielsweise genannt:
– fehlende personelle Ausstattung
– schlechte räumliche Bedingungen
– Alleinlassen der Lehrkräfte
– zu große Klassen
Fazit
„Dass die Realität nicht nur in Solingen so weit hinter dem Anspruch zurückbleibt, liegt nicht in der Verantwortung der Kollegien, sondern in der Verantwortung der Politik. Das Gelingen der Inklusion ist definitiv nicht nur eine Frage des Wollens und der gesellschaftlichen Haltung – es ist insbesondere eine Frage der schulischen Bedingungen. Personal kann die Stadt Solingen nur in Form von BFDlern (Bundesfreiwilligendienst) und Integrationshelfenden stellen, aber sächliche und räumliche Unterstützung kann und muss sie bereitstellen. Zukunftsfähige Schulbauten sind derzeit in der Planung und zum Teil auch schon in der Umsetzung. Dabei darf es jetzt aber nicht mehr zu Verzögerungen oder neuen Priorisierungen kommen. Daran wird sich auch unser neuer Oberbürgermeister messen lassen müssen“, stellt Jens Mertenl abschließend fest.
Was jetzt konkret an Maßnahmen nötig ist:
– Die sonderpädagogische Expertise muss an allen Schulen gesichert und nachhaltig gestärkt werden.
– Eine Doppelbesetzung aus Lehrkraft und sonderpädagogischer Lehrkraft ist für gemeinsames Lernen zu gewährleisten.
– Kleinere Lerngruppen sind unerlässlich – Klassen dürfen 24 Kinder und Jugendliche nicht überschreiten; Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf müssen dabei doppelt gezählt werden.
– Beschäftigte in Schulen benötigen praxisnahe Fortbildungen, materielle Ressourcen und ausreichend Zeit für Teamabsprachen, Planung und Beratung.
– Multiprofessionelle Teams müssen systematisch ausgebaut und ihre Mitglieder professionsspezifisch eingesetzt und unterstützt werden.
– Integrationshilfen müssen schnell und einfach beantragt und bewilligt werden können. Der Aufbau eines I-Helfer-Pools wäre sinnvoll.
– Schulische Inklusion braucht moderne Diagnostik und darauf aufbauende Förderung, passende Lernmittel, digitale Ausstattung und nicht zuletzt barrierefreie Räume.
Hintergrund zur Umfrage
Für die Studie wurden im März/April 2025 insgesamt 2.737 Lehrkräfte in Deutschland befragt, darunter 518 in NRW. 289 von ihnen unterrichten derzeit in inklusiven Klassen.
Hier erhalten Sie die Daten und Charts als PDF zum Download: https://mailings.vbe-nrw.de/c/107798145/6b7a6ded4fc4-sx8165